24.05.2025

Impuls zum 6. Sonntag der Osterzeit

Eine kleine Geschichte aus der Welt der Fische

Eine kleine Geschichte aus der Welt der Fische kann uns als Gleichnis dienen,

wie wir uns diesem Leben überlassen können,

das allein geeignet ist, uns die Liebe zu lehren.

 

In einer unterirdischen Höhle, in die kein Licht drang, gab es einmal blinde Fische.

Ein Wissenschaftler nahm einige von ihnen und setzte sie in ein dunkles Aquarium.

Schritt für Schritt ließ er Licht hineindringen, bis das ganze Wasser erhellt war.

Unter der Lichteinwirkung veränderte sich ganz allmählich diese Art der Fische.

Nach und nach bildeten sich Augen.

Die blinden Fische wurden zu sehenden Fischen.

Das Leben hatte sie an die Dunkelheit angepasst.

Dasselbe Leben passt sie an das Licht an.

Für diese Metamorphose hatte es gereicht, dass sie lebendig waren.

 

In den Stunden und Tagen durschreiten wir unzählige Welten.

Manchmal sind wir unter Blinden, manchmal unter den Hellsichtigen,

manchmal unter den Sehenden.

 

Wir sind unterwegs mit denen, die sich freuen,

und am nächsten Tag mit denen, die leiden.

Wir begegnen dem Lachen, wir begegnen den Tränen.

Doch mitten unter allen bleiben wir lebendig,

und als Lebendige tragen wir in uns den Keim

für alle Verwandlungen, die notwendig sind.

 

Von dem blinden Fisch wurde nichts anderes verlangt, als im Wasser lebendig zu bleiben, und sein Leben schenkte ihm Augen, als das Wasser immer heller wurde.

 

Von uns ist nichts anderes verlangt, als im überquellenden Leben Gottes zu bleiben.

Er ist es, der uns Augen schenkt.

Er ist es, der uns ein Herz schenkt.

Er ist es, der uns die Liebe schenkt.

 

Madeleine Delbrêl

 

(Quelle: ‚Madeleine Delbrêl: Du lebtest und ich wusste es nicht – Gebete und poetische Meditationen‘, HG: Annette Schleinzer, Verlag Neue Stadt, S. 106f)