
Impuls vom 23.01.2021 (Mt. 1,14-20)
„Das Reich Gottes ist nahe.“ (Mk 1,15) Im Kontext der ersten Jünger-Berufungen möchte ich diese Aussage einmal umformulieren: Die Freiheit ist nahe!
Wie komme ich darauf, diese Jünger-Berufungen so zu betiteln? Nun ja, mir war immer unklar, wie man so schnell – Markus sagt ja „sogleich“ – einfach alles stehen und liegen lassen kann. Wieso lässt man „sogleich“ alles hinter sich? Wie konnte dieser Jesus von Nazareth so eine Ausstrahlung haben, dass Menschen so reagierten?
Unabhängig davon, dass ein Evangelium natürlich nicht nur ein theologischer, sondern auch ein literarischer Text ist und die Jünger historisch bestimmt mal gezweifelt oder sich ein wenig Zeit erbeten haben, können wir jedoch historisch belegen, dass sie trotz allem „ja“ sagten. Die Jünger folgten dem Ruf Jesu. Aber warum? Und warum „sogleich“ oder zumindest so radikal nach dem Prozess der Entscheidung?
Hier kommt meiner Meinung nach die Freiheit ins Spiel.
Ich glaube nämlich, dass Jesu Ruf zum Reich Gottes die Freiheit des Menschseins verheißt. Was meine ich damit?
Damals wie heute werden Menschen oft als Produkt ihres sozialen Milieus angesehen und wesentlich darüber bestimmt, was sie beruflich machen, also über die Art, wie sie Geld verdienen. Und zurzeit Jesu hat das auch oft Sinn gemacht, da die Arbeitszeit 14 Stunden und mehr gedauert hat und dann nicht mehr viel vom „Leben“ übrigblieb. Und so hatte auch die deutsche Sprache recht, wenn sie vor 60 oder 80 Jahren aufgrund vergleichbarer Arbeitszeiten noch glaubte, Menschen einfach nach ihrem Beruf benennen zu können: Das ist der Bäcker, das ist die Bürokauffrau, das ist der Friseur, das ist die Verkäuferin, das ist der Priester.
Aber sind diese Menschen nicht viel mehr als ihr Beruf? Mein menschliches Leben ist doch mehr als das, womit ich mein Brot verdiene. Ein Mensch lebt nicht von dem, was er erarbeitet, sondern von der Wahrheit, die in ihm ist und zu der er berufen ist.
Eine zweite Schublade, in die wir andere Menschen oft stecken, ist die der biologischen Abstammung. Oft sehen wir Kinder als Produkt der Erbanlagen der Eltern. In der nordischen Sprache wird dies manifestiert, wenn beispielsweise solche Namen auftauchen: Svensson, Gunnarsson, also die Söhne von Sven und Gunnar. Wie lange war es in der Menschheitsgeschichte undenkbar, dass ein Sohn oder eine Tochter eines Bauern oder eines Schneiders einen ganz anderen Weg als die Eltern einschlagen konnten, gar einen Weg, der in ganz andere Milieus führte. Wie oft blieb man der Sohn oder die Tochter des Bäckers – ein Leben lang.
Aber den entscheidenden Schritt machen Kinder ja oftmals erst dann, wenn sie ihre eigenen Wege gehen und aus der Nachfolge der Eltern heraustreten und sich selbst erfinden.
Oder anders gesagt: Wir sind nicht nur dazu berufen, Kinder von Menschen zu sein, sondern auch Kinder Gottes. Und das meint, frei und ganz Mensch zu werden.
Simon und Andreas, Jakobus und Johannes bekommen durch Jesus ein Angebot, dass zur damaligen Zeit unerhört war, was auch in Teilen der 2. und 3. Welt heute noch unmöglich ist: Sie werden eingeladen, ihrer Berufung zu folgen.
Eigentlich war es das normalste der Welt, dass diese vier den Beruf ihrer Eltern weiterführen, dass sie Geld verdienen und in ihrem Milieu verbleiben.
All das mit rund 14 – 16 Stunden Arbeit am Tag, ähnlich wie es heute Menschen in Fabriken in Indien ergeht, in denen unsere Kleidung hergestellt wird. Da wird nur gefragt: Wer ist Näherin, wer ist Aufseherin. Da wird nur funktioniert. Da lebt man je nach Arbeit in seinem Milieu bzw. seinem Stadtteil, aus dem man nicht herauskommt. Da wird kein kleines Mädchen gefragt: Und was willst du später mal sein? Was ist deine Berufung?
Wenn wir das Reich Gottes als „nahe“ bezeichnen oder ausrufen, muss das Freiheit bedeuten. Es muss die Freiheit bedeuten, seine Berufung leben zu können. Vielleicht war das das Charismatische und Ansprechende an diesem Jesus: Er lebte seine Berufung voll und ganz. Man nahm ihm seine Begeisterung für seine Aufgabe, für seine Vision vom Menschsein voll und ganz ab.
Jesus eröffnet diesen vier Männern im heutigen Evangelium eine neue Zukunft. Er bietet die Freiheit, aufzubrechen und etwas anderes zu tun, als was die Zwänge ihnen von außen auferlegen. Jesus bietet ihnen die Chance, etwas zu tun, was sie berührt.
Vielleicht haben auch einige, die Jesus rief, nicht geantwortet, da der Weg mit Jesus als Wanderprediger nicht ihre Berufung war. Vielleicht warten diese noch immer auf die je eigene Berufung, um aus den Zwängen auszubrechen und Mensch zu werden.
Freiheit heißt, der Vergangenheit keine Macht mehr über sich zu geben, sondern voll uns ganz in die Zukunft aufzubrechen.
Zur Freiheit sind wir berufen, zum Gestalten des Reiches Gottes, dass wir dann mitgestalten, wenn wir Menschen unser Menschsein einfach leben und auch das Menschsein anderer ermöglichen.
„Das Reich Gottes ist nahe“ bedeutet, mein Menschsein an der Seite Jesu zu leben.
Eigentlich ist es, begeistert vom heutigen Evangelium, also ganz einfach am Reich Gottes mitzuwirken: Wir müssen als Menschen und Gesellschaft einfach dafür sorgen, dass ein jeder Mensch unabhängig vom Elternhaus, seiner Arbeit, seines Vermögens, seines Milieus oder seiner Heimat die Freiheit bekommt, sein Menschsein und seine Berufung für sich und diese Welt zu leben.
Leider scheitert bereits ein reiches Land wie Deutschland mit seinem Schulsystem oftmals daran, allen Kindern die gleichen Chancen zu ermöglichen. Und leider scheitert bereits die Europäische Union daran, wenn man sieht, wie wir mit Flüchtlingen in Bosnien umgehen, die nie eine faire Chance bekommen werden, frei zu sein.
Aber, und das sagt dieses Evangelium auch, es wird nie zu spät sein, auf den je eigenen Ruf zu antworten und neu Mensch zu werden.
Und so wünsche ich jedem von uns wahres Menschsein, die Erfahrung von Momenten, in denen Sie als der Mensch gesehen werden, der Sie sind. Und ich wünsche Ihnen Momente, in denen Sie anderen Menschen zeigen können, dass Sie sie als individuellen Menschen sehen. Dann können wir am Reich Gottes mitwirken.
Stefan Kaiser